DeepTalk

VATERÜBERTRAGUNG

Unterwerfung oder Rebellion bezüglich Autoritäten

August 2024 


Der Vater ist in der Regel der „erste Mann“ in unserem Leben und damit in den ersten Jahren der Kindheit ein Stellvertreter für „alle Männer“. Er symbolisiert in vielen Fällen Autorität und damit unter anderem vor allem Macht, Führung, Sicherheit und Schutz. Die Art und Weise, wie er sich uns gegenüber in unserer Kindheit, aber auch darüber hinaus, verhalten hat, wird über die Jahre tief in unserem Unterbewusstsein verankert und hat große Auswirkungen auf unser gesamtes Leben. Noch heute wird die Autorität in vielen Familien standardmäßig (unbewusst) dem Vater zugeschrieben, auch wenn sich das mittlerweile schon ändert. Unabhängig davon erhalten wir also schon in jungen Jahren ein mehr oder weniger klares Bild darüber, wie Autorität zu sein hat, je nachdem, was uns vorgelebt wurde. Später kommen weitere Menschen mit Autorität hinzu, wie etwa Kindergärtner_innen, Lehrer_innen, Fußballtrainer_innen, etc... und natürlich irgendwann auch einmal Vorgesetzte bei der Arbeit, wenn wir nicht in einer Selbstständigkeit unser eigener Chef sind. Was im Zusammenhang mit männlichen Vorgesetzten häufig passiert, ist die unbewusste Vaterübertragung. Davon sind sowohl Männer, als auch Frauen betroffen. Da in den Führungsetagen innerhalb unserer Industrieriesen hierzulande nach wie vor Frauen in der Minderheit sind, erlaube ich mir, mich im Rahmen dieses Beitrags auf die Vaterübertragung von Frauen und Männern auf einen männlichen Vorgesetzten zu fokussieren. Mutterübertragungen finden dann eher im privaten Bereich innerhalb von Beziehungen statt, wenn die eigene Mutter unbewusst auf die Partnerin projiziert wird…

Wir verbringen einen Großteil unserer Lebenszeit in unserem beruflichen Umfeld. Dort haben wir – in den meisten Fällen – mit anderen Menschen zu tun. Wir haben im DeepTalk Beitrag des letzten Monats erfahren, wie wir selbst authentisch am Arbeitsplatz auftreten können, indem wir uns nahbar und transparent als menschliches Wesen zeigen. „Wo gehobelt wird, da fallen Späne…“ – es kann bei der Arbeit auch einmal vorkommen, dass wir Fehler machen. Oder die anderen, oder die Vorgesetzten… Wir sind Menschen und im Idealfall lernen wir durch eine konstruktive Fehlerkultur aus unseren vermeintlichen „Fehlern“. Meine Einladung an dich: Erkenne jede Herausforderung deines beruflichen Alltags als Chance für deine persönliche Entwicklung und damit auch ganz beiläufig als einen wertvollen Beitrag für den Erfolg des Unternehmens. Wo fängst du damit an? Natürlich bei dir selbst.

In diesem Blogartikel erhältst du spannende Informationen über Vaterübertragungen im Arbeitskontext und wie du sie leichter erkennen kannst. Das hilft sowohl Menschen, die sich ohnmächtig gegenüber ihrem Vorgesetzten fühlen, als auch solchen, die sich selbst in einer ständigen Rebellion gegen ihren Vorgesetzten gefangen halten. Natürlich können die Inhalte dieses Artikels auch den betroffenen Vorgesetzten dabei helfen, sich aus der Bürde solcher Projektionen leichter herauszulösen und die „Vater-Rollen“, die ihnen unbewusst auferlegt werden, gar nicht erst anzunehmen.

Ich wünsche dir viele tiefgehende Erkenntnisse beim Lesen und empfehle dir, ehrlich mit dir selbst zu sein. <3 

>>>> Wer sich einmal auf den Weg der persönlichen Entwicklung gemacht hat, der weiß, dass der Weg bereits das Ziel ist und dass es immer Themen geben wird, welche uns herausfordern und uns aufzeigen, wo wir noch etwas aufzuarbeiten bzw. zu transformieren und zu integrieren haben. Es gibt die Überzeugung, dass Entwicklung spiralförmig geschieht. Vielleicht kennst du das auch: Du meinst zu glauben, mit einem Thema durch zu sein und es vollkommen aufgelöst zu haben. Doch dann, auf einmal, kommt es dir in einer anderen Erscheinung wieder über den Weg gelaufen. Meiner Erfahrung nach liegt der Unterschied in der Ebene, auf welcher ein Trigger andockt. Hier spielt vor allem die „Muster-Erkennung“ eine zentrale Rolle. In dem Moment, in welchem etwas so ähnlich aussieht oder abläuft, wie es in einem damaligen, bisher unverarbeiteten Vorfall in unserer Vergangenheit geschehen ist, wird der Trigger ausgelöst und damit die „alte Wunde“ berührt. Egal, wie viel Zeit bisher vergangen ist, es scheint, als wären wir JETZT mitten drin in der doch so alten Emotion. Das Tragische: Uns ist meistens nicht einmal bewusst, dass hier etwas „Unverarbeitetes“ dahintersteht.

Komischerweise gibt es in unserem Leben immer wieder Menschen, die scheinbar genau die richtigen Knöpfe drücken. Mit „Knöpfen“ meine ich hier die alten Wunden, die noch nicht wirklich heilen durften oder konnten. Viele davon haben ihren Ursprung in unserer Kindheit. Mir ist bewusst, dass Generationsunterschiede vorliegen – andere Zeiten, andere Sitten. Unsere Eltern, waren die Kinder unserer Großeltern, die selbst Kinder einer Nachkriegszeit oder gar Kriegszeit waren. Mir ist auch bewusst, dass es Dinge gibt, die nicht zu „entschuldigen“ sind. Von daher möchte ich hier nicht die Schuldfrage in den Raum stellen, sondern viel mehr aus einer neutralen Perspektive heraus mit einem gesunden Maß an Eigenverantwortung von dort aus losgehen, wo uns die Evolution bis heute gebracht hat. Meine Marschrichtung? Nach vorne. Dennoch gibt es Themen, die wir von unseren Vorfahren aus der Vergangenheit übernommen haben.

Heute haben wir die Chance, diese in uns aufzulösen.


Die wohl am weitesten verbreitete und über Generationen hinweg übernommene Thematik ist die Vaterübertragung, von welcher sowohl Männer als auch Frauen gleichermaßen betroffen sind. Die Konflikte der Kindheit im Zusammenhang mit dem eigenen Vater werden im Erwachsenalter so lange fortgeführt, bis sie eigenständig aufgelöst werden oder, und das wäre der schlimmste Fall, bis wir an ihnen zerbrechen. Der Grund, warum so viele Menschen davon betroffen sind ist von kollektiver / gesellschaftlicher Natur: Die letzten 6500 Jahre unserer Zeitrechnung sind maßgeblich geprägt durch das sogenannte Patriarchat (wörtlich "Väterherrschaft"). „Der Stärkere gewinnt“ – Macht dominiert.  Klare Rollenverteilungen und Vorgaben (Normen), wie du als Mann, als Frau oder als Familie, als Kind, etc. zu sein hattest. Autoritäten finden sich in der Politik, in Unternehmen und auch zu Hause, da regiert der Vater. Obwohl sich in der heutigen Zeit schon vieles geändert hat und ich eher eine „Vermännlichung der Frau“* beobachte, ist das alte Mindset doch noch in vielen Menschen bis heute tief in den Genen verankert, in Fleisch und Blut übergegangen sozusagen. Alle schauen zum „Familienoberhaupt“, dem Vater, auf – selbst seine Frau bzw. Partnerin. Nicht, weil sie zwangsläufig kleiner ist… Nein, aus ihr schaut das kleine Mädchen, das noch immer in der Vaterübertragung festhängt und den eigenen Vater nun auf ihren Mann projiziert.


Doch sobald der Vater das Haus verlässt und an seinem Arbeitsplatz ankommt, geschieht in vielen Fällen das gleiche auch mit ihm: Auch er schliddert in eine Vaterübertragung, und zwar gegenüber seinem Vorgesetzten. Wie kann das sein? „Pattern Recognition“ – Mustererkennung auf Deutsch. Unbewusst wird ein ähnliches Muster aus der Kindheit erkannt: Aufgrund der Autoritätsstellung des Vorgesetzten gegenüber dem Mitarbeiter bzw. der Mitarbeiterin entsteht ein Machtgefälle. Da „Macht“ als solches von vielen Eltern nicht unbedingt konstruktiv angewendet wird bzw. wurde, bedeutet ein solches Machtgefälle für viele Menschen eine ABHÄNGIGKEIT. Anders gesagt: Wer in seiner Kindheit ein Opfer anstatt Gewinner von Macht war, der trägt ein verzerrtes Bild von Macht in seinem Unterbewusstsein – solange, bis es „neu programmiert“ wird, also die Sichtweise/Bewertung von Macht bewusst verändert wird (Reframing), zum Beispiel durch neue, positive Erfahrungen mit Macht.

Die Vaterübertragung am Arbeitsplatz ist auch mir einmal passiert. Ich möchte im Folgenden gerne mein Erlebnis mit dir teilen:

Als Praktikantin ist mir vor etlichen Jahren im Rahmen eines Praxissemesters im Ausland bei einer anderen Firma eine Aufgabe misslungen, wodurch mein damaliger Vorgesetzter wütend wurde. Ich war dort in einer kleinen Abteilung, wo noch zwei weitere Personen anwesend waren, darunter eine Frau. Neben der Tatsache, dass mein Vorgesetzter ein sehr großer Mann war, kam darüber hinaus noch hinzu, dass ich während er sein Entsetzen mir gegenüber geäußert hat, auf meinem Bürostuhl gesessen bin, während er vor mir seitlich gestanden ist und sozusagen „von oben herab“ zu mir gesprochen hat. Seine Stimme wurde lauter, sein Kopf hochrot und ich konnte sogar ein Zucken an seinem Mundwinkel erkennen. Ohne darauf etwas sagen oder mich erklären zu können, hat er nach seiner Ansage den Raum verlassen. Die anderen Anwesenden haben während der gesamten Zeit nichts gesagt. Ich blieb unter Tränen (die ich stark unterdrückt habe) in einer Art Schockzustand zurück und verstand nicht, warum mich diese Situation so schwer getroffen hat. Das Thema wurde danach von allen Anwesenden nicht weiter besprochen, also "totgeschwiegen".

Heute kenne ich sehr wohl die Zusammenhänge und Gründe dessen, was bei mir da unterbewusst abgelaufen ist: Der Vorgesetzte, eine männliche Autoritätsperson, löste bei mir unbewusst eine Vaterübertragung aus. Je nachdem, was es für unerlöste Themen mit dem eigenen Vater gibt, triggert der Vorgesetzte stellvertretend für den Vater diese an. Häufig ist das „Schau mal Papa, wie gut ich bin!“ – ein endloses Streben nach ANERKENNUNG und Gesehen werden. In meinem Fall war das: „Ich bin schuld daran, wenn Papa wütend ist.“ – der Irrglaube, für Papas Glücklichsein (oder Unglücklichsein) die VERANTWORTUNG zu haben. Die Mustererkennung meiner Wahrnehmung schlug durch den enormen Höhenunterschied (er stehend, ich sitzend) und die Wut meines Vorgesetzten an und manövrierte meinen inneres Erleben unbewusst direkt zurück ins Kindesalter (Kinder sind wesentlich kleiner als ihre Eltern, fühlen aber umso besser unterdrückte Emotionen der Eltern).

Reflexion an alle Eltern:

Wie oft begebt ihr euch wirklich auf Augenhöhe mit euren Kindern, wenn ihr mit ihnen interagiert?


Auch die Tatsache, dass sich keiner der Anwesenden eingemischt hat, war für meine Vaterübertragung von Bedeutung: „Niemand sagt etwas, niemand hilft mir.“ war in meiner Kindheit ein gängiges Muster, welches ich erfahren habe, wenn mein Vater wütend war. Wie sehr hat sich mein Kinderherz gewünscht, dass Mama auch mal etwas sagt? Oder die Nachbarn... Und wenn sie es nur danach getan hätten, unter vier Augen mit mir, um mir insgeheim Beistand zu schenken… Nichts. "Totgeschwiegen"…

Wie schon gesagt, heute kann ich die Zusammenhänge und Beweggründe aller Beteiligten sowohl in der Trigger- wie auch in der Ursprungssituation vollkommen nachvollziehen und hege keinerlei Vorwürfe oder Groll. Auch die Vaterübertagung greift bei mir auf der Ebene der OHNMACHT nicht mehr. Dies konnte nur geschehen, in dem ich in den letzten Jahren viel Energie in Form von Willen, Zeit und Geld in meine persönliche Entwicklung investiert habe. Damit meine ich nicht nur das Erlernen von zusätzlichen Fähigkeiten wie „Souveränes Auftreten“ und „Konfliktmanagement“ usw., sondern auch die Bereitschaft, sich seinen größten inneren Ängsten zu stellen und einmal hinter die Kulissen zu blicken (Schattenarbeit):

  • Wo brodelt in mir die WUT in meinem Leben?
  • Wo trifft mich die SCHAM in meinem Leben?
  • Wo überkommt mich die TRAURIGKEIT in meinem Leben?
  • Wo urteilt die SCHULD in meinem Leben?
  • Wo regiert die OHNMACHT in meinem Leben?
  • …und wann habe ich ANGST davor, diese Gefühle in meinem Leben zu spüren?
     

Es ist ein Leichtes zu behaupten, du hättest keine Wut, Schuld, Scham etc. Es ist auch einfach, davon überzeugt zu sein, du hättest keine Angst. Was aber, wenn du die Angst mit den anderen Gefühlen kombinierst?

  • Wann habe ich ANGST davor, meine WUT herauszulassen?
  • Wann habe ich ANGST davor, meine SCHAM zu zeigen?
  • Wann habe ich ANGST davor, meine TRAURIGKEIT anzunehmen?
  • Wann habe ich ANGST davor, meine SCHULD zu beenden?
  • Wann habe ich ANGST davor, meine OHNMACHT umzukehren?
  • Also wann habe ich ANGST davor, meine WUT/SCHAM/TRAURIGKEIT/SCHULD/OHNMACHT zu spüren?

 

Ich weiß, ich wiederhole mich, aber ich weiß auch, wie schnell es passiert, etwas oberflächlich zu „überlesen“. Vielleicht gibt es ja einen Grund dafür…

Tipp: Um das Reflektieren dieser Fragen zu vereinfachen, kann es dir helfen, deine Antworten zunächst einmal nur auf den Kontext „Vaterübertragung auf den Vorgesetzten“ einzuschränken. Natürlich kannst du den Raum jederzeit auch für andere Themenfelder mit Abhängigkeitsverhältnissen öffnen, wie zum Beispiel:

Vaterübertragung auf meinen...

  • ...Partner
  • ...Coach/Therapeut/Lehrer/Ausbilder/Trainer
  • ...Vermieter


Wie wir hier schön sehen können, finden Vaterübertragungen auch außerhalb des beruflichen Umfelds statt. In vielen Partnerschaften projizieren Frauen ihren Vater auf ihren Partner. Auch in meinen vergangenen Partnerschaften fühlte ich mich gegenüber meinem Partner wie das kleine Mädchen oben im Bild. Eine weitere Form der Vaterübertragung kann auch in Bezug zu Institutionen, Religionen, spirituellen und politischen Gefilden geschehen. Der Vater und seine Übermacht wird hier auf einen „Gott“, „Führer“, „Guru“ oder Ähnliches projiziert.

Weiterhin spannend ist aus meiner Sicht auch die Co-Abhängigkeit in der Vaterübertragung: Während auf der einen Seite der Vater unbewusst auf das Gegenüber projiziert wird, findet auch auf der anderen Seite unbewusst eine Projektion statt, indem das eigene innere Kind auf das Gegenüber projiziert wird (eine „Kindübertragung“ sozusagen). So kann es im Falle eines Vorgesetzten, welcher zur Projektionsfläche seines Mitarbeiters bzw. seiner Mitarbeiterin wird, sein, dass er sein eigenes Vaterthema in umgekehrter Form nach außen projiziert und jetzt unbewusst die Rolle des eigenen Vaters ausübt. Wenn hier unerlöste Themen vorhanden sind, kann das in zwei Richtungen gehen:

  • Entweder verhält er sich so, wie es sein eigener Vater immer getan hat und bestätigt dadurch unbewusst das damalige Verhalten des Vaters.
  • Oder aber, er befindet sich in einer Rebellion gegenüber des damaligen Verhalten seines Vaters und möchte in jedem Fall vermeiden, so zu sein wie er. Das führt dazu, dass er genau das gegenteilige Verhalten seines Vaters an den Tag legt. Doch leider ist auch das ein Extrem und führt in den meisten Fällen zu Konflikten.


*Bei der "Vermännlichung der Frau" kann es sogar vorkommen, dass die Frauen unbewusst das Verhalten des eigenen Vaters übernehmen...

Wie du siehst, geht hier ein ganzer Fächer auf und das Thema geht viel tiefer, als es auf den ersten Blick scheint. Die Vaterübertragung tritt in den unterschiedlichsten Variationen auf, Geschlecht und Alter spielen im Grunde keine Rolle und meiner Erfahrung nach ist sie ein sehr weit verbreitetes Thema, über welches sich viele der Betroffenen nicht einmal bewusst sind und sie weit über den beruflichen Kontext hinausgeht. Vergiss nicht: "Entwicklung findet spiralförmig statt...". Ich empfehle dir, die Themen Schritt für Schritt anzugehen und aufzulösen - keinesfalls alles auf einmal. In meinem Fall beispielsweise, konnte ich bisher meine eigene Vaterübertragung hinsichtlich Ohnmacht und Unterdrückung zwar auflösen, stecke jetzt aber eher in rebellischen Verhaltensweisen fest, was eigentlich keinen Deut besser ist   - aber immerhin anders. Ich persönlich schaue mir gerne bewusst die beiden Extreme (Polaritäten) an und finde dann den gesunden Mittelweg. Je nachdem, WIE du dich entwickelst, wirst du diesbezüglich deinen eigenen Weg für dich finden, da bin ich mir ganz sicher.

Ich hoffe, dass dieser Blogartikel dazu beiträgt, dich bezüglich Vaterübertragungen sensibilisiert zu haben und wünsche mir von Herzen, dass du die Themen dahinter auflösen kannst und in den Frieden mit dir selbst und deinem Vater kommst. <<

In Liebe, deine

· ♦ · • ♥ Natalie  ♥ • · ♦ ·